Marcel HeinrichsdorfF
„Der Mensch ist das seltenste Tier auf der Insel“ - und das ist gut so
Wer im Wangerland Urlaub macht, steht oft an einem der schönen Strände und blickt aufs Meer. Am Horizont sieht man den Leuchtturm Mellumplate, die Insel Wangerooge - und sieht dazwischen die Vogelschutzinsel Minsener Oog, zu der man auch geführte Wattwanderungen machen kann. Die unbewohnte Ostfriesische Insel, zwischen der Insel Wangerooge und dem Fahrwasser der Jade gelegen, stand schon lange auf unserer Liste, denn das künstlich angelegte Eiland ist ein ganz besonderer Ort. Es ist nicht einfach, hierher zu kommen, einerseits müssen Wellen und Gezeiten stimmen und zum anderen dürfen die Menschen die Vögel auf der Insel nicht stören. Diesjähriger Vogelwart war Marcel Heinrichsdorff, einer von zwei Personen, die während des Sommers auf der Insel lebten und arbeiteten. Der 35-Jährige kümmerte sich um den Vogelschutz - und das ist eine Herausforderung.
Die Reise zur Minsener Oog entpuppt sich für uns als Abenteuer – und das nicht wegen der Genehmigungen, die man braucht, sondern wegen des Wellengangs, denn der letzte Herbststurm ist erst wenige Tage her. Die Insel Minsener Oog ist im Gegensatz zu den übrigen bewohnten und unbewohnten Inseln vor der niedersächsischen Festlandsküste eine Insel aus zweiter Hand. Sie wurde zum Schutz des Jadefahrwassers als sogenanntes Strombauwerk durch die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung aufgespült. Diese Funktion erfüllt die Insel auch heute noch. Und deshalb sind auch alle Maßnahmen, die zur Aufrechterhaltung dieser Funktion notwendig sind, von den strengen Schutzbestimmungen des Nationalparkgesetzes freigestellt.
Der Soundtrack zur Geschichte von 3 Miles to Essex
Freizeitkapitän Holger, der mit seinem Boot „AKKA“ in Hooksiel liegt, fährt uns an diesem Tag zur Insel. Mit an Bord ist auch Vogelwart Marcel Heinrichsdorff, studierter Arborist und Landschaftsplaner. Die Vorortbetreuung des Gebietes erfolgt auf der Insel Minsener Oog ebenso wie auf Mellum und Wangerooge nicht durch Ranger der Nationalparkverwaltung selbst, sondern auf der Grundlage eines Betreuungsvertrages durch Mitarbeiter/innen des Mellumrates. Seit dem 29. Juni 2009 ist die Insel auch integraler Bestandteil des Weltnaturerbegebietes Wattenmeer. Bis auf einen in der Örtlichkeit gekennzeichneten, südlich auf der Insel gelegenen Bereich, dem sogenannten Besuchersektor, darf die Insel ganzjährig aus Naturschutzgründen, insbesondere denen des Vogelartenschutzes, nicht betreten werden. Der größte Teil der Insel unterliegt als Ruhezone im Nationalpark dem stärksten Schutz. Wir sind aufgeregt und gespannt, was uns auf dieser Insel erwartet. Aber erst mal hinkommen! Mit unserem Boot können wir nicht direkt an der Insel festmachen, sondern müssen die letzte Strecke per Schlauchboot ausgebootet werden - und das bei einer irren Strömung. Das sorgt schon mal für Aufregung und Herzklopfen!
Videointerview
Als wir im Wasser einen Helium-Luftballon in Form eines Bären treiben sehen, sind wir einen Moment abgelenkt und schießen ein paar Fotos. Marcel gefällt das allerdings überhaupt nicht, und er erklärt uns warum: „Die Vögel fressen den Müll, bauen sich ihre Nester aus Netzresten, verfangen sich und verenden darin. Eine Möwe speit das Unverdauliche in der Regel aus, aber Untersuchungen an toten Eissturmvögeln zum Beispiel haben gezeigt, dass 96 Prozent dieser Tiere mindestens 20 Müllteile im Magen haben. Die können dann keine andere Nahrung mehr verdauen und verhungern mit vollem Bauch. Das können wir wohl nicht mehr aufhalten, weil im Meer schon viel zu viel Müll rumschwimmt.“
Wir sagen jetzt nichts mehr, sondern sind betroffen. Erst recht, als wir endlich auf der Insel ankommen und wir den ganzen Müll am Strand liegen sehen. Damit haben wir nicht gerechnet! Es verschlägt uns die Sprache und nach jedem Schritt, den wir über dieses wunderschöne Eiland gehen, werden wir wütender. Abgesehen von Marcel und seinem Kollegen vom Mellumrat; einem Verein, der sich um den Vogelschutz der Inseln Mellum, Wangerooge und seit 1946 auch um die Minsener Oog kümmert, kümmert sich das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Wilhelmshaven um den Erhalt der Insel.
Beide Teams, die sich dieselbe Station mit Schlafmöglichkeiten und Küche teilen, haben bei der Erledigung ihrer Aufgaben wenig miteinander zu tun. Aber darüber hinaus unterstützen und helfen sie sich gegenseitig. Alle 14 Tage, erklärt uns Marcel mit starrem Blick, sammeln sie auf einer Kontrollstrecke den Müll am Strand ein um Art, Menge und Herkunft zu erfassen - und befreien dabei die Insel ein Stück weit vom angespülten Plastik. Aber mit dem Einsammeln ist es nicht getan: „Es gibt viele verschiedene Arten von Müll, die musst du zur Erfassung und Kategorisierung erst mal unterscheiden. Das ist zeitaufwändig und mühsam. Ein Monitoring von Kontrollstrecken ist sinnvoll, aber das grundsätzliche Problem muss an anderer Stelle gelöst werden.“ Wir verstehen die Wut in Marcels Stimme, als wir den ganzen Plastikmüll, darunter auch unzählige, zerplatze Hochzeitsballons mit Plastikbändern sehen und dazwischen Vögel, die hier leben und brüten und daran sterben. „Die Hochzeitsballons kommen aus ganz Deutschland und auch von der holländischen Küste rüber. Der ganze Plastikmüll wird uns alle noch überleben!“, erzählt uns Marcel. Aber nicht nur die Vögel, auch die Robben und Meerestiere gehen an dem ganzen Plastikmüll und vielen herrenlos herumtreibenden „Geisternetzen“ zugrunde.
Die Müllkontrolle ist inzwischen fester und wichtiger Bestandteil von Marcels Arbeitsalltag; hauptsächlich geht es aber um den Schutz und die Erfassung der Vögel auf der Minsener Oog. Sein Tagesablauf, erzählt Marcel, während uns der Wind um die Ohren weht, richtet sich nach den Gezeiten, weil sich auch die Vögel nach der Tide richten. „Bei Hochwasser sind sie nah an der Insel, bei Ebbe sind sie im Watt und suchen nach Nahrung. Ich gehe immer dann raus, wenn ich die Vögel am wenigsten störe. Dann laufe ich vier bis acht Kilometer um die Insel, beobachte und zähle die Tiere, welche sich gerade hier aufhalten, brüten oder vorbeiziehen.“
Ansonsten muss Marcel natürlich auch aufpassen, dass keine Unbefugten auf die Insel kommen, die die Vögel in diesem Biotop stören. Wobei das ja, wie wir selbst erfahren haben, nicht ungefährlich ist. Auf der Insel ist Marcel immer zu Fuß unterwegs, auch bei Kälte und schlechtem Wetter. Und genau das reizt ihn: „Hier spürt man alle Naturgewalten hautnah. Und es sind Momente, die sonst keiner erlebt, die man ganz für sich alleine hat. Denn das seltenste Tier hier auf der Insel ist der Mensch.“ Das einsame Leben auf der Insel ist manchmal nicht einfach, gesteht uns Marcel mit einem Augenzwinkern: „Die Tageszeitung kommt immer zu spät und die Pizza wird kalt geliefert!“ Für die Versorgung von Marcel und seinem Kollegen gibt es einen Gebietsbetreuer, der für sie auf dem Festland einkaufen geht. „Alle zwei Wochen kommt ein Schiff und bringt uns unsere Lebensmittel.“
Marcel hat seine Begeisterung für die Natur und die Vögel zum Beruf gemacht: „Da gehört schon ein gewisser Idealismus dazu, du musst der Typ dafür sein. Denn die Tage hier sind oft sehr lang, wenn es eine Woche durchregnet zum Beispiel, gehst du halt eine Woche nicht nach draußen, vor allem in der Brutsaison nicht. Du stehst eigentlich den ganzen Tag am Fenster, schaust, was kommen für Vögel vorbei, wie viele sind gerade da, passiert da etwas Besonderes?“ Und das alles wird fein säuberlich protokolliert, insofern besteht Marcels Job auch aus sehr viel Büroarbeit. „Wir sammeln auch Daten, bei denen es jetzt noch gar nicht sinnvoll erscheint, sie aufzunehmen. Aber es kann sein, dass diese in fünf, zehn oder 100 Jahren extrem wichtig sind, um Rückschlüsse ziehen zu können.“
Wir verabschieden uns von Marcel und verlassen die Insel wieder so stürmisch, wie wir gekommen sind, denn die Flut kommt so schnell und die Strömung ist so stark, dass wir bis durchs hüfthohe Wasser zum Boot laufen müssen. Aber auch in uns tobt ein Sturm, die Wut über das, was wir auf dieser Insel gesehen haben - den Plastikmüll, der angespült wird und nicht nur das Leben auf der Minsener Oog bedroht. Es ist auch unser Müll!
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Text: Sylke Sdunzig / Foto: Tom Tautz / Videointerview: Stefan Sobotta
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